Kinderschicksale

Zwei Schwestern

Liebe Leserinnen und Leser,
mir ist wahrlich nicht leicht im Herzen, wenn ich Ihnen etwas über die tragische und traurige Vergangenheit einiger unserer Kinder erzähle, die wir in unserem Kinderdorf aufgenommen haben.
Zuvor sollen Sie wissen, dass nicht alle der Kinder Waisen sind. Manche Kinder haben noch Angehörige. Diese Verwandten sind jedoch aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, die Kinder bei sich aufwachsen zu lassen. Der Hauptgrund ist absolute Armut.

In Kambodscha würde niemand ein Kind „weggeben“, wenn nicht aus purer Verzweiflung! Die Familienbanden sind sehr eng. Man ist jederzeit füreinander da, wenn es möglich ist. Auch Nachbarn helfen mit großer Selbstverständlichkeit in Notsituationen. Und es gibt die Mönche, die keinen Bedürftigen abweisen. Manches Kind wird zur Pagode gebracht, weil Familien keinen anderen Ausweg sehen. Unweit unseres Kinderdorfes gibt es eine solche Pagode. Ich war mit den Kindern gern und oft dort. Während einer meiner Aufenthalte im Kinderdorf habe ich auch miterleben können, wie sich die Mönche bei uns informierten und umschauten, bevor sie dem Kinderdorf ein bedürftiges Kind anvertrauten.

Die Schicksale unserer Kinder berühren mich sehr. Als ich das erste Mal nach Tani kam (es war anlässlich der Eröffnung des Kinderdorfes Ende Mai 2009) lernte ich zwei Mädchen kennen, Schwestern. Sie gehörten zu den ersten sieben Kindern unseres Kinderdorfes. Ich werde niemals unser Zusammensein in diesen Tagen vergessen! Bei jedem Besuch in Tani schaue ich voller Glück und Freude auf diese beiden Mädchen, denn sie sind auf einem guten Weg, ihre Traumata zu überwinden.

Ich habe die Geschwister damals sehr unglücklich, sich stets bei den Händen haltend, ohne jegliche Emotionen, vorgefunden. Sie mussten miterleben, wie der Vater ihre Mutter misshandelte, am Ende totschlug. Verzweifelt, hilflos und völlig auf sich gestellt, flüchteten die beiden in den Wald, ernährten sich lange Zeit von Wurzeln, Beeren… Die jüngere Schwester habe ich mit geschorenen Haaren erlebt. Sie hat sich die Haare voller Verzweiflung ausgerissen – ein unglaublich trauriger Anblick! Heute trägt das Mädchen lange Haare, kann herzlich lachen, aber in ihren Augen sehe ich immer wieder, dass sie nichts vergessen hat. Sie findet jederzeit Halt bei ihrer großen Schwester, bei den anderen Kindern, mit denen sie deren Schicksale teilt. Das Kind findet großes Verständnis und liebevolle Zuwendung bei ihrer Hausmutter. Ich wünsche den beiden Schwestern sehr, dass ihre Seelen nie mehr verletzt werden und ich wünsche ihnen auch, dass sie ihre Traumata eines Tages bewältigen können!

Ursula Beyer
Vereinsvorsitzende aus Deutschland

 

Vom Blitz erschlagen

Auch die traurige Geschichte eines Mädchens aus unserem Kinderdorf berührt mich zutiefst:
Bereits im Alter von zwei Jahren verliert sie ihre Mutter. Sie wird von einem Blitz erschlagen, als sie die einzige Kuh der Familie vom Feld heimholen möchte. Der Vater heiratet wieder, weil er eine neue Mutter für das Kind sucht. Er weiß nicht, dass diese Frau HIV positiv ist. Bereits ein Jahr nach der Heirat stirbt auch sie. Möglicherweise weiß der Vater nichts von dieser tödlichen Krankheit, doch nun beginnt auch für ihn eine grauenvolle Zeit. Er hat sich angesteckt. Der Vater versucht, sein Kind und sich selbst so gut es geht, zu versorgen. Er verkauft die spärlichen Produkte seiner Viehwirtschaft. Es bleibt der Familie fast nichts, um überleben zu können. Der Gesundheitszustand des Vaters verschlechtert sich dramatisch. Er magert ab, es fehlt ihm die Kraft zu arbeiten. Auch die Nachbarn der Familie sind arm, aber sie versorgen das Kind und seinen Vater mit Nahrungsmitteln, so weit es ihnen möglich ist – eine Selbstverständlichkeit der Nächstenliebe in Kambodscha. Irgendwo gibt es noch Verwandte, aber sie haben den Kontakt seit Jahren abgebrochen. Der Vater wird immer gebrechlicher und seine Sorge um das kleine Mädchen wächst mit jedem Tag. An dem Tag, an dem er das Mädchen in unserer Obhut übergibt, wäscht er sie liebevoll ein letztes Mal an einem großen Tonkrug hinter der Hütte. Er zieht ihr saubere Kleidung an, umarmt sie, weint. Er weiß, dass er sie nur noch selten wiedersehen wird. Das kleine Mädchen weiß das noch nicht. Gemeinsam mit dem Vater wird sie zum Kinderdorf begleitet. Unterwegs gibt es endlich einmal reichlich zu essen für die beiden ausgehungerten Menschen. Das Kind hat Gelegenheit, ihren Vater manchmal zu besuchen. Sie erzählt vom Leben im Kinderdorf und der Vater ist froh, dass sich seine Tochter allmählich eingewöhnt, nicht hungern muss und zur Schule gehen kann. Dennoch fällt es dem Mädchen sehr schwer, mit dieser großen Last und den Erinnerungen umzugehen. Sie ist still und zurückhaltend. Selten sehe ich sie lächeln.

Inzwischen ist der Vater verstorben und das Kinderdorf ist nun endgültig die Familie für das Mädchen geworden. Dort kann sie behütet aufwachsen und ich hoffe sehr, dass über die Jahre hinweg Licht und Freude in ihrem Kinderherz mehr Platz finden als Traurigkeit.

Ursula Beyer
Vereinsvorsitzende in Deutschland

 

Verlassen

In Kambodscha gelten Kinder, die von ihren Eltern verlassen wurden, ebenfalls als Waisenkinder.
Wir haben in unserem Kinderdorf drei Geschwister, auf die jenes Schicksal zutrifft. Der Vater der Kinder hatte die Familie schon vor Jahren verlassen. Die Mutter kümmerte sich allein um ihre Kinder. Doch auch sie hatte wohl andere Pläne und verließ sie ohne Erklärung, ohne Abschied. Wie einsam müssen sich die drei gefühlt haben! Sie verstanden nicht, warum man sie allein ließ und glaubten, dass sie von ihren Eltern nicht geliebt wurden.

Der 4-jährige Junge wurde zu Mönchen gebracht, die fünf Monate für ihn sorgten. Die beiden Mädchen lebten bei ihren Großeltern weiter, die bereits fast 70 Jahre alt waren. In der Hütte der Großeltern herrschte bittere Armut, zudem waren sie schon sehr gebrechlich. Dennoch taten die beiden alten Leute für die Mädchen was in ihrer Macht stand und versorgten sie wenigstens mit etwas Essen und einem Dach über dem Kopf. Nachbarn halfen dabei, wenn die Not zu groß wurde.

Eines Tages wurde der Kinderdorfleitung von dem kleinen Jungen berichtet. Es dauerte auch nicht lange, bis die Mönche bereit waren, ihn in die Obhut unserer Hausmütter zu geben. Zuvor jedoch erfolgte eine genaue Inspektion des Kinderdorfes. Dabei berichteten die Mönche auch von den Schwestern. Schon nach wenigen Tagen wurden auch sie in das Kinderdorf aufgenommen. Es gab ein glückliches Wiedersehen der Geschwister, die sich fünf Monate lang nicht gesehen hatten. Der Gedanke daran, von den Eltern verlassen und dann auch noch getrennt zu werden, ist einfach furchtbar für mich. Diese Kinder müssen eine schreckliche emotionale Zeit hinter sich haben!

Die Großeltern waren einerseits sehr traurig darüber, die Kinder wegzugeben, andererseits waren sie jedoch sehr froh, diesen guten und sicheren Weg für ihre Enkel gewählt zu haben. Sie blieben noch ein wenig bei den Kindern und überzeugten sich vom guten Essen, den schönen Wohnhäusern im Kinderdorf und freuten sich, wie liebevoll die Geschwister von allen aufgenommen wurden.

Ich erlebe bei meinen Besuchen immer wieder, dass es den Kindern nach wie vor nicht möglich ist, zu verstehen, warum sie von ihren Eltern verlassen wurden. Sie haben schwer daran zu tragen und ich denke, vor allem ihr Zusammensein als Geschwister hilft ihnen ein wenig darüber hinweg. Das Mädchen sind manchmal sehr schwermütig, obwohl alle sie mögen und sie längst Freunde im Kinderdorf gefunden haben. Am schwierigsten war die Situation lange für den Jungen. Er ist im Grunde ein fröhliches Kind, kann hinreißend singen und tanzen. Dennoch überkamen ihn häufig Tränen. Besonders schlimm war es für ihn, wenn seine Hausmutter freie Tage hat und das Kinderdorf verlässt. Dann erinnert er sich wahrscheinlich voller Angst daran, schon zweimal verlassen worden zu sein.

Es ist sicher sehr schwer, den Kindern eine absolute Sicherheit zu geben, dass sie immer im Kinderdorf bleiben dürfen, dass stets liebe Menschen da sind, die ihnen Halt und Geborgenheit geben werden. Wir können nicht in ihre verletzten Kinderseelen hineinschauen, wir können lediglich versuchen, mit großem Verständnis und sehr viel Feingefühl ihre Kindheit ein bisschen hoffnungsvoller zu gestalten. Dafür sorgt die große Kinderdorf-Familie jeden Tag.

Ursula Beyer
Vereinsvorsitzende in Deutschland

Hermann Gmeiner

 

„Ich weiß nichts Besseres, einem Kind zu helfen, als ihm eine Mutter zu geben, Geschwister zu geben, ein Haus, ein Dorf zu geben“

 

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Ziel des Projekts „Tani – Perspektiven für Kinder in Kambodscha“ ist es Waisen- und bedürftigen Kindern ein Leben in einem sicheren Zuhause, Zugang zu Bildung und ein kindergerechtes Aufwachsen zu ermöglichen.